Sunday, April 29, 2007

Das Wechselsonett und sein Einfluß auf die seismische Harmonie

Rolf-Peter Wille


"Im Anfang war das Wort." [ Schweigen ]

Das Wort? Warum eigentlich war im Anfang das Wort? Wieso war nicht im Anfang, zum Beispiel, das Schweigen? Reden ist Silber, Schweigen ist Gold…

Bereits Goethes Faust störte sich am Wort "Wort" und wollte es ersetzen durch Sinn, Kraft, Tat: "Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!" Just in diesem Moment jedoch wurde seine Tat unterbrochen durch den Pudel, dessen Kern sich in Mephistopheles verwandelte. Nur das Wort, so scheint es, ist wahrhaftig, ist göttlich, während stets ein leichter Schwefelgeruch die schnöde Tat begleitet. Der Verbrecher, wie bekannt, wird ja auf frischer Tat ertappt und nicht etwa auf frischem Worte. In der Tat – im Mittelalter wurde Satan auch der "Affe Gottes" genannt, ein Schöpfer von Scheinwelten und Scheinwirklichkeiten. Man bannte ihn, den Satan nämlich, mit dem Wort Gottes.

Ist das Wort nur eine Reflektion der Wirklichkeit? Oder ist etwa das, was wir Wirklichkeit nennen, die Emanation des Wortes? "Bis Himmel und Erde vergehen wird vom Wort nicht ein einziges Iota und kein Strichlein vergehen, bis alles in Erfüllung gegangen ist. Wenn jemand etwas hinzufügt zum Wort, so wird Gott auf ihn die Plagen legen und ihn mit Erdbeben erschüttern." Der Sofer, der gelernte Schreiber der Torah, wird folgendermaßen ermahnt: "Solltest Du zufällig einen einzigen Buchstaben der Torah unterschlagen, so würdest Du damit das gesamte Universum zerstören."

Die magische Kraft des Wortes. In der kabbalistischen Golemmagie wird der Lehmfigur ein koscheres Pergament mit einem hebräischen Schem unter die Zunge gelegt. Der Golemschöpfer reinigt sich vor Beginn der Arbeit physisch und spirituell, legt ein weißes Gewand an. Nachts, in der vierten Stunde, knetet er die Gestalt aus jungfräulichem Lehm und reinem Frühlingswasser. Er umtanzt den liegenden Golem begleitet von mantrischem Singen der hebräischen Buchstaben. Wird ihm dann das Wort in den Mund geschoben, so entsteht ein dumpfes, aber doch lebendiges Wesen aus Haaren, Haut, Blut und Nägeln. Aber wehe dem unachtsamen Rabbi, der sich verschriebe oder versänge. Der wütende Golem würde ihn in Grund und Boden stampfen.

"Wer die Macht hat über das Wort, besitzt auch die Macht über die Wirklichkeit und kann die Erde erschüttern. Aber hüten soll er sich, daß er nicht verschüttet werde." Vor einiger Zeit erhielt ich den Auftrag, bei einem Benefizkonzert für die Erdbebenopfer in Zentraltaiwan mitzuwirken. Bei dieser Gelegenheit konnte ich einige der zum Teil recht stark zerstörten Ortschaften besuchen. In den Trümmern mancher Ruine konnte man noch Reste des Hausrates, zerbrochenes Geschirr, Akten, Briefe, usw. erkennen. Aus Neugier, oder vielleicht doch, um ein Souvenir zu ergattern, zog ich ein Papier aus dem zersplitterten Holz eines ehemaligen Schreibtisches und fand es mit einem Gedicht in Form eines Sonetts beschrieben, erlitt jedoch einen Schock als ich sah, daß dieses Sonett offensichtlich ein Erdbeben besingt. Noch weit merkwürdiger ist der Titel "Ti-Tzen Jen-Hou", was ungefähr "Nach dem Erdbeben" bedeutet. Der Autor oder Schreiber, sicherlich verschüttet, kann dieses Gedicht doch nur vor dem Erdbeben geschrieben haben. Und dennoch beschreibt dieses Sonett in erschreckendem Detail genau die Szene, die sich mir vor den Trümmern der Ruine darbot.



Wieder zu Hause, in Taipei, übersetzte ich dieses Sonett (mit Hilfe meiner Frau) und übertrug es frei in deutsche Verse:

Nach dem Erdbeben

Verraucht hängt die zerknickte Silhouette
Von Wolkenkratzern schief am Firmament.
Der Bauch der Stadt zermalmt sich im Zement.
Verdreht erstarr’n die Häuser zum Skelette.

Aus Schrott ragt drohend die verbogene Ruine,
Verkrüppeltes Gerüst des hohlen Riesen;
Noch zittert weiß, zerrissen, die Gardine
Aus des Zyklopen Augenloch, dem fiesen.

In sein Gerippe eingerenkt verhaken
Sich Autowracks zerquetscht wie Kakerlaken.
Des nachts noch geistern die verwaisten Schreie,

Durchkriecht die Stille ein Gewimmer.
Und wieder einmal scheint es als befreie
Sich kreischend ein Gesicht aus dem Getrümmer.


Vor kurzem schickte ich das Sonett als Kuriosum an meine kretische Brieffreundin Majissa, wobei ich es jedoch in meiner Eitelkeit als mein eigenes Sonett bezeichnete. Majissa zögerte nicht lange und schickte mir eine Parodie in Form eines Gegensonetts:

Gebrochen kleben Worte in den Kehlen
angstvoll verstummt im Angesicht der Not.
Umklammernd nah schon tastet sich der Tod
erspürt den bangen Flügelschlag der Seelen.

Verlangsamt schlägt sich durch des Grauens Stätte
der schwache Pulsschlag einer sterbend' Stadt.
Aus Trümmern ragt die Hand der Mutter, matt
die eben noch den Säugling trug zu Bette.

Gehüllt in schwarzen Schleier sinkt hernieder,
so still und lauscht der Opfer Klagelieder
vom Himmel tränenlos die rote Sonne.

Es hat im Weltenkern auf seinen Runden
der Erde tiefer Groll mit wahrer Wonne,
gelegt sein’ Finger in die alten Wunden.


Bereits am nächsten Tag gab es ein recht schweres Nachbeben in Taipei, bei dem mehrere Arbeiter von einem stürzenden Baugerüst fielen. In unserer Wohnung im 12. Stock stürzte ein metallener Notenschrank auf meinen Stuhl vor dem Computer.

Ich zögerte nun nicht lange. Ich ließ den Schrank an die Wand schrauben, packte die heruntergefallenen Noten ungeordnet hinein und revanchierte mich mit einem weiteren ironischen Wechselsonett:

Verstummt, versteinert hat mich Deine Kunst
Des reimgerechten Wechselsonettierens.
Welch’ himmlische Brillanz des Parodierens!
So steigt gewiß Dein Stern in meiner Gunst.

Aus Versen ragt gewiß und stets gewisser
Die Poesie von Taiwan bis nach Kreta.
Und durch vergilbte Silben vom Rolf-Peter
Da strahlen schon Sonette der Majissa.

Wie bin ich fasziniert von dem Gedanken:
Ein kreativer Geist kennt keine Schranken!
Verwebt sein Wesen Neues und auch Gleiches,

Dann hat er sich vom Irdischen befreit.
Und aus dem Kelche des Ideenreiches
Da wird ihm schäumen die Unendlichkeit.


Man wird bemerken, daß ich Anleihen bei Schillers Freundschaft machte, um die Lücken in meinem Einfallsreichtum zu kaschieren. Wer kann sich jedoch nun mein Erstaunen vorstellen, als ich ein paar Tage später folgendes las: "Starkes Erdbeben erschüttert Südgriechenland und Kreta. Kurz vor Mitternacht am Dienstag schreckten die Griechen aus dem Schlaf. Ein Erdbeben von der Stärke 6.1 erschütterte die Erde. In Heraklion liefen die Menschen in Panik auf die Straße. Das Erdbeben wurde von einem tiefen Dröhnen begleitet und dauerte nach Augenzeugenberichten fast eine Minute. Man spricht von dem größten Erdbeben auf der Insel Kreta seit 30 Jahren."

Auch Majissa zeigte sich sehr erschüttert von dem Erdbeben. Für ein paar Wochen waren wir beide sprachlos und trauten uns nicht, unsere Wechselsonette fortzusetzen.

Endlich, Ende Juli, entschlossen wir uns dazu, die Wechselsonette gemeinsam bei einer bedeutenden Webseite für deutsche Literatur zu posten. Am nächsten Morgen (wir hatten die Sonette noch nicht gepostet): "Schwerstes Erdbeben seit zehn Jahren in Nordrhein-Westfalen. Weite Teile Nordrhein-Westfalens sind am Montagmorgen gegen 07.45 von Erdstößen heimgesucht worden. Es war das schwerste Erdbeben in dem Bundesland seit zehn Jahren und erreichte 4.9 auf der Richter-Skala. Tausende Menschen wurden aufgeschreckt."

(Anmerkung: Die Wechselsonette werden fortgesetzt. Sie können sich gerne beteiligen.)


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